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Ohne Menschlichkeit

Die in Stralsund sterilisierten Menschen stammten fast alle aus dem Gebiet Vorpommern. Der jüngste Patient war 13 Jahre, die jüngste Patientin 14 Jahre; der älteste Patient 69 Jahre, die älteste Patientin 50 Jahre. Die überwiegende Anzahl der Kranken litt an Schizophrenie. Es wurden aber auch 19 Alkoholiker, zwei Patienten mit Blindheit und sechs Taubstumme sterilisiert. Wie in einem Fall ersichtlich, reichte aber auch die Einweisungsdiagnose "Einweisung durch den Kreisarzt" zur Operation aus. Im Falle eines erblindeten Patienten wurde der Augenarzt Dr. Harms aus Stralsund vom Erbgesundheitsgericht zur Begutachtung herangezogen. Dr. Harms hielt diese Augenkrankheit nicht als unbedingt erblich und lehnte die Sterilisation ab. Herr E. B. wurde aber trotzdem operiert. Die Eltern der drei gesunden Kinder der Familie B. aus Stralsund erhielten folgenden Bescheid:
Der Kreisarzt Tgb. Nr. U 5/34 Stralsund, den 7. September 1934
An Herrn K. B. und Frau E. Stralsund
Nachdem das Erbgesundheitsgericht mir mitgeteilt hat, dass der Beschluss für ihre Unfruchtbarmachung rechtskräftig geworden ist, werden Sie hiermit aufgefordert, innerhalb der nächsten 14 Tage die Unfruchtbarmachung ausführen zu lassen. Sie können sich mit diesem Schreiben an jedes Krankenhaus wenden. Falls Sie in einer Krankenkasse sind, wenden Sie sich an diese. Sind Sie in keiner Krankenkasse, dann bitten Sie das Krankenhaus, die entstandenen Kosten von der Regierungshauptkasse Stettin wieder einzuziehen.
gez. Prof. Walter, Medizinalrat

Mit welcher Rücksichtslosigkeit sterilisiert wurde, zeigt auch das Verhältnis der verantwortlichen Ärzte zu Schwangeren. In zwei Fällen wurde die Schwangerschaft nach Antrag durch den Kreisarzt und in einem Fall nach Antrag durch die Heilanstalt bei gleichzeitiger Sterilisation unterbrochen. Gertrud Z. aus Born mußte sich im 8. Schwangerschaftsmonat zur Sterilisation einfinden. Die Antwort von Prof. Walter am 25.9.1935:
Nachdem durch das Zeugnis des Dr. Kahl festgestellt ist, daß Sie sich jetzt im 8. Schwangerschaftsmonat befinden, wird ihnen für die Ausführung der Unfruchtbarmachung ein Aufschub gewährt bis nach Beendigung der Geburt. Es liegt in Ihrem eigenen Interesse, sobald wie möglich nach der Geburt die Unfruchtbarmachung vornehmen zu lassen ... Anamnese und Befund vom Städtischen Krankenhaus am 16.12.35: Am 12.11.35 hat Pat. entbunden. Sie bringt das Kind jetzt ins Krankenhaus ... Die Anamnese wurde am 17.12.35 erhoben.
Weiter aus den Unterlagen ersichtlich: 1939 werden ein Zigeunermädchen und ein Mädchen, dessen Vater Jude war, sterilisiert. Schon 1936 wurden ein Pole, er war Patient, und 1937 ein NSDAP - Mitglied trotz Einspruch unfruchtbar gemacht.

Zwei Brüder aus Stralsund, C. und W. H. Korbmacher, wiesen geringe Missbildungen am rechten Auge bzw. am Fuß auf. Sie wurden durch die Polizei zwangseingewiesen, sie hatten ihre Anforderungen vernichtet. Insgesamt mußte der Arzt in 22 Fällen die Aufnahme im Städtischen Krankenhaus durch eine polizeiliche Zwangseinweisung registrieren. In einigen Fällen, besonders bei chronischem Alkoholismus, wurden auch Anträge zur Unfruchtbarmachung von Patienten selbst gestellt. Nach dem Krieg versuchten hier und dort einige Gesundheitseinrichtungen eine Resterilisation. Zwei Beispiele haben wir bei der Durchsicht der Patientenunterlagen gefunden. Die Ergebnisse sind nicht bekannt. Die eine Patientin wurde im Alter von 27 Jahren, die andere Patientin 1938 im Alter von 16 Jahren operiert.

Sterilisiert wurde im Städtischen Krankenhaus Stralsund bis 1939. Nach Ausbruch des Krieges fand man keine Zeit mehr, um diese eugenischen Maßnahmen durchzusetzen. Von den 657 eingewiesenen Patienten wurden 650 sterilisiert.

Bis 1939 wurden in Deutschland Hunderttausende Menschen unfruchtbar gemacht, eine Zahl, die mit Abstand nur in diesem Lande erreicht wurde. Die rassenpolitischen und "züchterischen" Eingriffe in die Menschheit endeten mit der Vernichtung der Kranken in den Anstalten und mit der Vernichtung von Millionen Menschen im Krieg und in den Konzentrationslagern. Eine unendliche große Schuld haben Mediziner in der Nazidiktatur dabei auf sich geladen. Diese Schuld gilt es zu bewältigen, so wie es A. Mitscherlich und F. Mielke in ihrem Buch "Medizin ohne Menschlichkeit" fordern.



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