Tränen noch nach 60 Jahren

In den Jahren 1990/9l wurde die Bevölkerung in Vorpommern durch eine Artikelserie im Nordkurier und in der Ostsee-Zeitung über die Zwangssterilisation und über die Vernichtung psychisch Kranker in Pommern informiert.

Nach dieser Artikelserie konnte über 20 betroffenen zwangssterilisierten bzw. euthanasiegeschädigten Menschen bei einer einmalen Abfindung oder einer zusätzlichen kleinen Rente geholfen werden. Diese betroffenen Menschen haben den zwangsweisen operativen Eingriff in ihrem Leben nicht überwinden können. Mit 11 oder 15 Jahren wurden sie zwangsweise und auch mit Polizeigewalt bis etwa 1944 in die Krankenhäuser eingeliefert und sterilisiert. Der Anlaß der Sterilisation war vielfach banal, die Ursachen lagen in der Person selbst oder in der Familie. Vielen Menschen wurde durch die Zwangssterilisation der Lebenssinn zerstört.

Frauen haben sich oft Kinder gewünscht, ihr Leben ist unerfüllt geblieben. Die betroffenen Männer möchten heute auch nach über 60 Jahren verhindern, daß diese Verstümmelung bekannt wird. Sie fühlen sich für ihr ganzes Laben gezeichnet und gebrandmarkt.

Mit diesem Beitrag möchte ich an einigen Beispielen Betroffener die Auswirkungen der unmenschlichen rassenbiologischen Ideen in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland darstellen; denn bis zum heutigen Tag sind die Wunden nicht geheilt, die Diskussion ist nicht abgeschlossen.

Angehörige und Betroffene schrieben oder erzählten mir ihr Schicksal nach der Zwangssterilisation:

Frau R.N. aus P. berichtet:
"Meine Tante R. und mein Onkel F.B. wollten die Finanzhilfe, die auf Antrag für kinderreiche Familien einmal gewährt wurde, in Anspruch nehmen. Zu diesem Zweck mußte die ganze Familie vor einem Amtsarzt in Pr. E. erscheinen. Bei der Einzelbefragung konnte mein Cousin W. nicht alles zufriedenstellend beantworten. Zunächst geschah erst einmal gar nichts. Nach einiger Zeit wurde der Familie von Frau Thiele, die in der Parteiortsgruppe das Sagen hatte, mitgeteilt, daß mein Cousin W. vor einem Ärzteteam Gelegenheit zu einer Wiederholung der Prüfung bekommen würde. Persönliche Sachen sollten mitgebracht werden, denn es könnte mehrere Tage dauern. An dem anberaumten Tag begab er sich in die Städtische Klinik nach K. Leider gab es keine Prüfung, sondern noch am gleichen Tag eine Untersuchung in Narkose, so wurde ihm gesagt. In Wirklichkeit aber wurde er sterilisiert. Ohne von dem Geschehen in Kenntnis gesetzt zu werden, wurde der Tatbestand erst nach schriftlicher Anfrage mitgeteilt. Besonders meine Tante hat diese Ungerechtigkeit nie verwinden können. Mein Cousin W. hat die Sterilisation immer sehr belastet."

Bruder W.B. in seiner eidesstattlichen Erklärung:
"Einige Monate nach der Hochzeit meines Bruders brachte seine Frau M. meiner Mutter gegenüber zum Ausdruck, daß sie gerne ein Kind von meinem Bruder haben möchte. Das sei leider wegen meines Bruders nicht möglich.... Den wahren Grund der Kinderlosigkeit meines Bruders erklärte mir meine Mutter erst nach längerem Nachfragen. Sie sagte mir, daß W. nach der Schule sterilisiert worden sei. Mein Vater und sie hätten das nicht verhindern können. Es sei von einer Kommission beschlossen worden. Sie sagte mir, ich solle darüber mit niemanden sprechen, W. hätte schon genug Schweres m seinem Leben durchmachen müssen. Über das Problem wurde in der Familie meines Wissens nie gesprochen."

Herr R.N. aus U. teilte mir mit:
"Ich wurde am 05.01.22 in S. (jetzt Republik Polen) geboren. Infolge vieler Kinderkrankheiten- Rachitis u.a.- war mein körperlicher und geistiger Zustand nicht besonders gut. Im Jahre 1939 erhielt meine Mutter vom Gesundheitsamt 5. die Aufforderung, mit mir bei einer Dienststelle des Regierungsbezirkes Stettin zu erscheinen. Nach einer Aussprache erhielt meine Mutter im Juni 1939 die Aufforderung, mit mir im Kreiskrankenhaus S. zu erscheinen. Dort wurde ich gegen den Willen meiner Eltern und gegen meinen eigenen Willen zwangssterilisiert."

Herr F.N. aus B. teilte mir folgendes mit:
"Ich bin am 13.07.1911 in L. Kreis G. geboren. Aufgrund eines Unfalles entwickelte sich bei mir ein Krampfleiden und ich wurde daraufhin 1937 in G. sterilisiert. Die Anfälle traten mit den Jahren dann nicht mehr auf. Da ich heiraten wollte, mußte sich meine Frau Ä. im gleichen Jahr einer Sterilisation in G. unterziehen, sonst wäre eine Ehe nicht möglich gewesen."

Herr H.E. aus N. wußte folgendes zu berichten:
"Infolge eines Nervenzusammenbruches 1941 an der Front in Frankreich wurde ich in das Karolinenstift nach A.-S. verlegt und im gleichen Jahr zwangssterilisiert. Bis zum heutigen Tag habe ich diese willkürliche Zwangsmaßnahme nicht überwunden und spreche grundsätzlich nicht über diese Schmach. Später lernte ich meine Frau kennen. Sie wurde bereits 1935 in N. sterilisiert. Meine Frau G. kam aus einer kinderreichen Familie und mußte in der Landwirtschaft viel arbeiten. Im Alter von 15 Jahren konnte sie diesen Belastungen nicht mehr standhalten und litt unter Schlaflosigkeit. Vom Hausarzt wurde sie in das Karolinenstift A.- S. eingewiesen und im Sommer 1935 sterilisiert. Ihre Eltern waren gegenüber dem Beschluß zur Sterilisation machtlos. Sie leidet sehr unter dieser Maßnahme, sie hat ihre Kinderlosigkeit bis zum heutigen Tag nicht verwunden."

Frau A. Q. leidet an einem erblichen Hüftleiden mütterlicherseits. Sie schrieb:
"Meine Eltern erhielten vom damaligen Gesundheitsamt Templin ein Schreiben, daß ich für eine Sterilisation laut Erbgesundheitsgesetz vorgesehen bin. So mußte ich als l5-jährige eine Zwangssterilisation über mich ergehen lassen. Die Operation wurde im Kreiskrankenhaus Templin durchgeführt."

Von Herrn 0. S. aus N. erhielt ich folgenden Brief :
"Meine Mutter ist erblindet und ich schreibe in Ihrem Namen. Meine Mutter ist 1943 in Neubrandenburg zwangssterilisiert worden. Als Nachweis für die erfolgte Zwangssterilisation lege ich eine Ablichtung des Staatlichen Gesundheitsamtes Neustrelitz bei." Kopie der Bescheinigung vom 19.10.43 beiliegend.

Nach den massenhaft durchgeführten Zwangssterilisationen in Deutschland begann dann 1939 aufgrund eines Erlasses von Hitler die Tötung der Patienten aus psychiatrischen Anstalten. Ein Verfechter und Vorreiter dieser Maßnahme war der enge Freund Hitlers, der Gauleiter von Pommern Schwede Coburg. Die Provinzialheilanstalt Stralsund war dann auch die erste aufgelöste Anstalt in Deutschland. Ein großer Teil der Patienten wurde über Lauenburg im Wald von Piasnice erschossen.

(Bis zum heutigen Tag hat es noch keine offizielle Delegation geschafft, einen Kranz an diesem Ort niederzulegen.)

Euthanasie-Geschädigte können einen Antrag auf Entschädigung stellen.
In einigen Fällen half ich den Betroffenen beim Einreichen der Unterlagen und hoffe sehr, daß sie eine Entschädigung erhalten haben. An dieser Stelle auch einige Beispiele von Betroffenen.

Frau E. H. aus R. schrieb an den Bundesminister für Finanzen:
"Nach Mitteilung der Heilstätte "Sachsenberg" in Schwerin ist meine Mutter Frau E. H. am 23. Juni 1944 verstorben. Ich bin davon überzeugt, daß meine Mutter keines natürlichen Todes gestorben ist; denn nach Aussagen eines Wärters mußten in der Anstalt wöchentlich 60 Patienten sterben. Meine Mutter mußte sich aus irgendeinem Grunde am 1.10.43 im Rathaus der Stadt R. vorstellen, von dort wurde sie sofort nach Schwerin gebracht. Die Todesursache ist mir nicht bekannt. Ich sah meine Mutter noch einmal, sie war innerhalb einer kurzen Zeit verfallen und hatte weißes Haar bekommen. Als sie von uns ging, war sie eine gesunde Frau."

Frau E. N. aus A. schrieb mir einen Brief mit folgendem Inhalt:
"Mein Vater F. P., geb. 24.12.00, wurde, als sich seine Krankheit bemerkbar machte (Epilepsie), in die Nervenheilanstalt Stralsund eingewiesen. Dort besuchten meine Mutter und ich ihn oft, bis wir Bescheid bekamen, von Besuchen Abstand zu nehmen, da der Patient verlegt werde. Nach kurzer Zeit, es war Ende Dezember 1940, kam ein Brief aus Kaiisch (Polen) mit einem Totenschein.
Verstorben am 16.12.1940. Todesursache: Herzbeutelentzündung u. Kreislaufschwäche. Der Leichnam wird für med. Untersuchungen einbehalten. Es gab keine Bestattung und keine Grabstätte."

Frau U. S. aus H. teilte mir mit:
"Im Jahre 1940 erhielt meine Schwester L. die Nachricht, daß meine Mutter am 18.05.1940 in Schroda - West (Warthe) verstorben sei. Ich bin bis heute davon überzeugt, daß sie nicht auf natürliche Weise verstorben ist. In meiner Kindheit habe ich als Waise im Waisenhaus S. bis zu meinem 9. Lebensjahr und darüber hinaus viel Leid und Not erlebt und kann diese Jahre nicht vergessen.
Meine Mutter wurde wahrscheinlich 1938 wieder in die Heilanstalt Stralsund gebracht, wo ich auch geboren wurde. 1939 erfolgte dann die Auflösung der Heilanstalt und die Verlegung meiner Mutter nach Treptow a. d. Rega. 1940 erhielt meine Schwester dann die Todesnachricht. Meine Nachforschungen ergaben, daß im Standesamt Sroda Wielkopolska keine Eintragung über den Tod meiner Mutter besteht. Hierbei dürfte es sich um ein Scheinstandesamt gehandelt haben."

Frau E.I. aus N. teilte mir mit, daß ihr Vater etwa 1927 in die Heilanstalt in Aachen eingewiesen und später über Dören nach Hadamar verlegt wurde. Im Juli 1941 erhielt die Familie die Todesnachricht mit folgendem Inhalt:

Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar:
Sehr geehrte Frau L.I.
Im Nachgang zu unserem Schreiben vom 21.06.41 müssen wir Ihnen zu unserem Bedauern mitteilen, daß Ihr Mann, Herr E. J. L., der im Rahmen von Maßnahmen der Reichsverteidigung in unsere Anstalt verlegt wurde, am 2. Juli 1941 unerwartet infolge von Grippe mit hinzutretender Pneumonie verstorben ist. Da unsere Anstalt nur als Durchgangsanstalt für diejenigen Kranken bestimmt ist, die in eine andere Anstalt unserer Gegend verlegt werden sollen, und der Aufenthalt hier lediglich der Feststellung von Bazillenträgern dient, die sich immer wieder unter solchen Kranken befinden, hat die zuständige Ortspolizeibehörde um den Ausbruch und die Übertragung ansteckender Krankheiten zu vermeiden, im Einvernehmen mit den beteiligten Stellen weitgehende Schutzmaßnahmen angeordnet und gemäß § 22 der Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten die sofortige Einäscherung der Leiche und die Desinfektion des Nachlasses verfügt. Einer Einwilligung der Angehörigen usw. bedarf es in diesem Falle nicht. Der in die Anstalt mitgebrachte Nachlaß wird nach der Desinfektion als Pfand für den Kostenträger hier zurückgelegt....

Frau T. versicherte mir, daß der Tod des Vaters in keiner Weise in und außerhalb der Familie besprochen wurde. Es sollte eine Weiterverbreitung der Kenntnisse über die Krankheit und den Tod innerhalb des Verwandten- und Bekanntenkreises verhindert werden. Sie habe auch nicht die von ihr gewünschte Ausbildung aufnehmen können, denn bei jeder Angabe über den Tod des Vaters mußte die Ausbildung abgebrochen werden. In der DDR konnte dann später die Lehrerausbildung aufgenommen werden. (Frau T. hat keine Entschädigung erhalten).

Frau M. W. aus S. schrieb mir zum Tode ihrer Mutter folgenden Brief:
"... Meine Mutter E. 0. geborene M., geboren am 13.05.1903, gestorben am 09.07.1940 in einer Nervenheilanstalt im Wartegau, gehört wahrscheinlich zu den Euthanasie-Opfern....
Wir waren vier Geschwister, die Brüder 1925 und 1927 geboren, meine Schwester 1934 und ich wurde 1936 geboren. Nach meiner Geburt kam die Mutter in die Nervenheilanstalt Treptow a. d. Rega... Genau einen Monat später nach dem Tod des Vaters erhielten wir die Todesnachricht der Mutter, sie war zwischenzeitlich in eine andere Anstalt verlegt worden und angeblich an einer Geschlechtskrankheit verstorben.... In einer Einwohnerdokumentation wird der Tod der Mutter mit ca. 1942 angegeben. Als Sterbeort wird die Heilanstalt in Kaisch genannt. Nach meinen Informationen wurden im Zusammenhang mit der Heilanstalt Meseritz - Obrawalde auch hier Patienten ermordet."