Veröffentlichung in
Ostseezeitung v. 2.9.1992
Engagierter Arzt fragt:
Wer hat Hinweise zu Behandlungspraktiken im
Krankenhaus Zylchow (Stettin) im Jahre 1943?
Von Dr. Erwin Walraph
Die offizielle Medizin
während der Zeit des Faschismus ging in Deutschland eigentümliche Wege. Es
stand nicht der Mensch mit seinen Krankheiten und Leiden im Mittelpunkt, sondern die soziale Nützlichkeit des Individuums, die Erhaltung seiner Arbeitskraft.
Die begriffliche
Kennzeichnung ist allerdings nur insofern berechtigt,
als sie die „in einem strukturierten
Systemzusammenhang erfolgende Nutzung der medizinischen Wissenschaft und der
Ärzteschaft für die Erhaltung der gegebenen sozialen Strukturen, für die Verschärfung der
Ausbeutung und für die direkte Kriegsvorbereitung
charakterisiert.
Diese politischen
Zielstellungen haben im Vergleich zur Anzahl der tätigen Ärzte nur wenige Arzte
wahrgenommen.. Arzte und andere Mitarbeiter
medizinischer Einrichtungen waren innerhalb der vorgegebenen Bedingungen tätig
und haben durch ihre Einsatzbereitschaft und Hingabe Kranke und Verwundete
behandelt und gepflegt, leidenden Menschen Hilfe erwiesen und damit dem
humanistischen Auftrag des Arztes gemäß gehandelt.
So muß auch folgendes Beispiel medizinischen Handelns
in dem Krankenhaus der ehemaligen Stadt Zylchow bei Stettin eingeordnet werden.
Ich erhielt den unten aufgeführten Brief eines
Behinderten aus unserem Lande, dem nach bundesdeutscher Gesetzlichkeit kein
Härteausgleich aus dem Fonds für Kriegsopfer, Opfer der Euthanasie und
Zwangssterilisation zusteht, da es in diesem Falle um eine medizinische
Behandlungsweise in einem Kranhaus handelt (daß er die er die Therapie
überlebte, ist wohl Glückssache). Der Brief, an die Oberfinanzdirektion unseres
Landes gerichtet, lautet:
Sehr geehrte Damen
und Herren,
Ich hin am 7. August 1936 in xxx geboren und leide seit
meinem 6. Lebensjahr an einer ausgeprägten Kyphoskoliose
(Wirbelsäulenverkrümmung, Erkl. Dr. W.). Meine Eltern erhielten, wahrscheinlich vom damaligen
Amts- und Kreisarzt Prof. Dr. xxx 1943 den Auftrag, mich nach Zylchow bei
Stettin in ein Spezialkrankenhaus zu bringen.
Was
ich dort erlebte, hat
sich in meinem Leben eingeprägt und ich kann dieses
Erlebnis nicht überwinden. 2mal täglich (außer bei Fliegeralarm) erhielten wir Kinder eine gepolsterte
Schlinge um den Hals gelegt und mußten uns dann auf einen Schemel stellen. Der
Schemel wurde fortgestoßen und wir blieben an der Schlinge hängen. Zeitweise kam es zu tödlichen Zmschenfällen, zahlreiche Kinder überstanden diese
Prozedur nicht. Sie wurden dann in eine Zinkwanne gelegt
und entfernt.
Neun Monate mußte
ich diese Behandlung über mich ergehen lassen, dann
durfte ich für kurze Zeit nach Hause. Während dieser Zeit wurde das Krankenhaus bombardiert, und es erfolgte
dann keine weitere Behandlung dieser Art mehr in meinem Leben. Aufgrund dieses Bombardements bin ich wahrscheinlich
am Leben geblichen.
Nach 1944 hielten
mich meine Eltern sehr zurück, so daß ich zu keiner Behandlung mehr
gezwungen werden konnte.
Leider habe ich für diese Behandlungsart keine Beweise. Ich bitte Sie, meinen Angaben auf Glaubwürdigkeit und Richtigkeit
zu vertrauen bzw. auf
gleich gelagerte Fälle zu überprüfen.
Mit freundlichem Gruß
In diesem Fall handelte es sich um eine orthopädische
Therapiemaßnahme, die nicht den Menschen mit seiner Krankheit in den
Mittelpunkt stellt, sondern die Möglichkeit der Tötung des Menschen mit
einbezog und somit unheilbar Kranke der Gesellschaft auf einfache Art und Weise
bewußt entzog.
Die Ärzte wurden nicht
zur Verantwortung gezogen und auf dem „Nürnberger Ärzteprozeß" stand diese
Art der Tötung nicht zur Diskussion.
Ich möchte die Leser bitten, sofern Sie von dergleichen Behandlungsweise, insbesondere des Zylchower Krankenhauses Kenntnis haben, mir eine Mitteilung zukommen zu lassen.
Bei dem Gespräch mit
dem o. g. Betroffenen zeigte sich eine Tendenz der Angst und Sorge um sein und
das Leben anderer Behinderter.
Die Zeitung „Böblinger Bote" bezieht sich auf
eine Mitteilung des Deutschen Charitasverbandes und weist auf Tendenzen hin,
daß die Diskussion über lebenswertes und lebensunwertes Leben wieder verstärkt
geführt wird. Unter dem Mantel der Kostenrechung wird bereits wieder darüber
gesprochen, ob die Gesellschaft nicht von kranken und behinderten Menschen
„befreit" werden könne. Diese Diskussion gab es bereits schon einmal in
der Weimarer Republik. Sie wurde dann während des Nationalsozialismus umgesetzt
und führte zu einem Kindermassenmord sowie dazu, daß etwa 100 000 erwachsene
Kranke in Heil- und Pflegeanstalten und 10 000 unproduktiv gewordne Menschen im
Rahmen der Häftlingseuthanasie ermordet wurden. 400 000 Menschen traf das
Schicksal der Zwangssterilisation.
Die Ziele dieser menschenvernichtenden Maßnahmen: eine
erfolgreiche Rassenhygiene, eine „Säuberung des Volkskörpers" von
Erbkrankheiten und eine Kosteneinsparung für unheilbar Kranke wurden und
konnten nie erreicht werden. Ich hoffe, daß diese, von der Menschheit und der
Wissenschaft ad adsurdum geführten Thesen nicht wiederholt werden.
(Dr. Erwin Walraph setzt sich engagiert für die
Interessen noch lebender Opfer der NS - Euthanasie und Zwangssterilisation ein.
Hinweise an ihn können dazu beitragen, seine Ermittlungen und Bemühungen zu
unterstützen.)