Artikel in der Ostseezeitung vom 21.03.11 S.12

Mord an hilflosen Patienten im Wald von Piasnica

1285 Patienten der Stralsunder Heilanstalt und mehr als 10.000 andere Kranke sowie Polen und Nazigegner fielen der SS bei Danzig zum Opfer.

Von Erwin Walraph

Auf dem Stralsunder Güterbahnhof spielt sich Entsetzliches ab. Die Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalt der Stadt werden in Eisenbahnwagen getrieben. Je länger die Aktion andauert, desto gewaltsamer, denn die Betroffenen haben inzwischen von dem ihnen zugedachten Schicksal erfahren. Vom 17. November bis 14. Dezember 1939 fuhren wahrscheinlich mehr als zehn Patiententransporte aus der Anstalt in Richtung Osten. Von den 1287 Patienten - 729 Frauen und 558 Männer - wurden 1285 nach Neustadt (Wejherowo) bei Danzig (Gdansk) und von dort direkt zur Erschießung in den Wald von Piasnica gebracht. Zwei Patienten starben vorher.

Mit der deutschen Annexion Polens im September 1939 wurde eine Situation geschaffen, in der das Hitlerregime den schon länger erwogenen Massenmord an psychisch und körperlich Behinderten sowie Andersdenkenden umsetzen konnte. Direkt verantwortlich dafür waren Hitlers Leibarzt Dr. med. Karl Brandt und der Chef der „Kanzlei des Führers", Philipp Bouhler. Beteiligt waren Juristen, Ärzte, Gesundheitsämter und Ärzteorganisationen.

Nach Kriegsbeginn hatte der Gauleiter der NSDAP in Pommern, Franz Schwede-Coburg, beschlossen, die ihm unterstehenden Heil- und Pflegeanstalten wie Stralsund, Stettin-Kückenmühle, Treptow a. d. Rega (Trzebiatow) oder Lauenburg (Lebork) anderen Zwecken zuzuführen. Die Stralsunder Anstalt war die erste in Deutschland, die auf brutale Weise geräumt und der Waffen-SS übergeben wurde.

In Treptow a. d. Rega und Lauenburg wurden den Stralsunder Transporten weitere Patienten zugefügt. Laut Aussagen im Prozess gegen den SS-Sturmbannführer Kurt Eimann sind insgesamt 2000 Patienten nach Neustadt transportiert worden.

Die Bahnhofsgebäude stehen noch, sind fast unverändert. Dort wurden die Stralsunder durch das SS-Sonderkommando „Wachsturmbann Eimann" empfangen. Eimann erschoss das erste Opfer selbst. Er berichtete in seinem Prozess 1968: „Der Transportzug brachte etwa 120 Geisteskranke... Jeweils zwei SS-Männer führten (ein)en Geisteskranken bis an den Rand der Grube. . . Am Grubenrand schoss (ein) dritte(r) SS-Mann dem Kranken mit der Pistole in das Genick, so dass er in die Grube fiel. Dieser Vorgang wiederholte sich einzeln hintereinander bei sämtlichen Kranken des Transportes."

Polnische Untersuchungen belegen, dass die Tötungen bei Piasnica schon im Oktober 1939 begonnen haben - das erste große Verbrechen der Nazis in Europa! Auf diesem 250 Hektar großen Areal sollen mehr als 12 000 Menschen getötet worden sein. Unter ihnen auch viele Angehörige der polnischen Führungsschicht: Lehrer, Geistliche, Beamte, Arbeiter, Intelligenz, auch Landwirte. Dazu kamen Antifaschisten aus dem „ Reich".

E. Ellwart aus dem Dorf Orle bei Piasnica kam zufällig auf den Exekutionsplatz. Sie sagte später aus: „Einer der SS-Männer nahm das letzte Kind und tötete es auf grausamste Weise. Unter den Leichen sah ich auch den mir bekannten Pfarrer Dr. Boleslaw Witkowski." Ermordet wurden u. a. die Lyzeumsdirektorin Alicia Kotowka, der Direktor des Meeresamtes, Ing. Stanislaw Legowski, und der Gerichtspräsident Jaroslaw Czarlinska. Die Massengräber wurden von KZ-Häftlingen aus dem Lager Stutthof ausgehoben. Diese wurden dann selbst getötet.

1946 fanden offizielle Ausgrabungen im Wald von Piasnica statt. Von den damals ermittelten 35 Massengräbern wurden 26 näher untersucht. Nur in zwei Gräbern waren nicht verbrannte Opfer, jeweils 305. 1944 - die Front kam näher - hatten KZ-Häftlinge die Gräber öffnen, die Leichen entnehmen und verbrennen müssen. 1962 wurden Brandstellen entdeckt. Neben einigen persönlichen Kleinigkeiten der Opfer stieß man auf Überreste von Ketten, mit denen 20 Häftlinge gefesselt worden waren. Die unverbrannten Leichen wurden teilweise identifiziert. Arzte der Exhumierungskommission stellten fest, dass mehrere Opfer verwundet worden waren und lebendig begraben wurden.

1955 wurde in der Gedenkstätte von Piasnica das Hauptdenkmal enthüllt. Ein Weg führt in den mit Fichten besetzten Wald. Rechts und links des „Kreuzweges" sind Steine mit den Nummern der Gräber aufgestellt. Die ehemaligen Massengräber werden von vielen Menschen gepflegt. In einer offenen Kapelle finden jährlich Gedenkveranstaltungen statt.

In Wejherowo wurde die König-Christus-Kirche zu Ehren der Piasnica-Opfer mit symbolischen Gedenktafeln der im Wald Ermordeten erbaut. In Deutschland widmet sich Walraphs Wanderausstellung „ erlebt - verdrängt - erinnert" seit 2003 dem Gedenken an die von den Nazis in Pommern durchgeführten Zwangssterilisationen und die Opfer der Euthanasie.