Gesetz
zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
(( Reichgesetzblatt 1 G. 529
))
Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz
beschlossen, daß hiermit verkündet wird.
§1
(1) Wer erkrankt ist, kann durch chirurgischen
Eingriff unfruchtbar gemacht
(sterilisiert)
werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer
Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren
körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.
(2) Erbkrank im Sinne dieses
Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten
leidet:
1. angeborenem Schwachsinn,
2. Schizophrenie
3. zirkulärem
((manisch-depressivem)) Irrsein,
4. erblicher Fallsucht,
5. erblichem Veitstanz
(hunringronsche Chorca)
6. erblicher Blindheit,
7. erblicher Taubheit,
8. schwerer erblicher
körperlicher Mißbildung,
(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an
schwerem Alkoholismus leidet.
§ 2
(1)
Antragsberechtigt ist derjenige, der unfruchtbar gemacht werden soll. Ist
dieser geschäftsunfähig oder wegen Geistesschwäche entmündigt oder hat er das
achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet, so ist der gesetzliche Vertreter
antragsberechtigt; er bedarf dazu der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts.
In den übrigen Fällen beschränkter Geschäftsfähigkeit bedarf der Antrag der
Zustimmung des gesetzlichen Vertreters. Hat ein Volljähriger einen Pfleger für
seine Person erhalten, so ist dessen Zustimmung erforderlich.
(2) Dem Antrag ist eine Bescheinigung eines für das
Deutsche Reich approbierten
Arztes beizufügen, daß
der Unfruchtbarzumachende über das Wesen und die Folgen der Unfruchtbarmachung
aufgeklärt worden ist.
(3) Der Antrag kann zurückgenommen werden.
§ 3
1. der beamtete Arzt,
2. für die Insassen einer
Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt oder einer Strafanstalt der Anstaltsleiter.
§ 4
Der Antrag ist schriftlich oder zur
Niederschrift der Geschäftsstelle des Erbgesundheitsgerichts zu stellen. Die
dem Antrag zu Grunde liegenden Gründe sind durch ein ärztliches Gutachten oder
auf andere Weise glaubhaft zu machen.
Die
Geschäftsstelle hat dem beamteten Arzt von dem Antrag Kenntnis zu geben.
§ 5
Zuständig für die Entscheidung ist das
Erbgesundheitsgericht, in dessen Bezirk der Unfruchtbarzumachende seinen
allgemeinen Gerichtsstand hat.
§ 6
(1) Das Erbgesundheitsgericht ist
einem Amtsgericht anzugliedern. Es besteht aus einem Amtsrichter als
Vorsitzenden, einem beamteten Arzt und einem weiteren für das Deutsche Reich
approbierten Arzt, der mit der Erbgesundheitslehre besonders vertraut ist. Für
jedes Mitglied ist ein Vertreter zu bestellen.
(2) Als Vorsitzender ist
ausgeschlossen, wer über einen Antrag auf vormundschaftsgerichtliche
Genehmigung nach § 2 Abs. 1 entschieden hat. Hat ein beamteter Arzt den Antrag
gestellt, so kann er bei der Entscheidung nicht mitwirken.
§ 7
(1) Das Verfahren vor dem
Erbgesundheitsgericht ist nicht öffentlich.
(2) Das Erbgesundheitsgericht hat die
notwendigen Ermittlungen anzustellen: es kann Zeugen und Sachverständige
vernehmen sowie das persönliche Erscheinen und die ärztliche Untersuchung des
Unfruchtbarzumachenden anordnen und ihn bei unentschuldigtem Ausbleiben
vorführen lassen. Auf die Vernehmung und Beeidigung der Zeugen und
Sachverständigen sowie auf die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen
finden die Vorschriften der Zivilprozeßordnung sinngemäße Anwendung. Ärzte, die
als Zeugen oder Sachverständige vernommen werden, sind ohne Rücksicht auf das
Berufsgeheimnis zur Aussage verpflichtet. Gerichts- und Verwaltungsbehörden
sowie Krankenanstalten haben dem Erbgesundheitsgericht auf Ersuchen Auskunft zu
erteilen.
§ 8
Das Gericht hat unter
Berücksichtigung des gesamten
Ergebnisses der Verhandlung und Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu
entscheiden. Die Beschlußfassung erfolgt auf Grund mündlicher Beratung mit
Stimmenmehrheit. Der Beschluß ist schriftlich abzufassen und von den an der
Beschlußfassung beteiligten Mitglieder zu unterschreiben. Er muß die Gründe
angeben, aus denen die Unfruchtbarmachung beschlossen oder abgelehnt worden
ist. Der Beschluß ist dem Antragsteller, dem beamteten Arzt sowie demjenigen
zuzustellen, dessen Unfruchtbarmachung beantragt worden ist, oder, falls dieser
nicht antragberechtigt ist, seinem gesetzlichen Vertreter.
§ 9
Gegen
den Beschluß können die im § 8 Satz 5 bezeichneten Personen binnen einer
Notfrist von einem Monat nach Zustellung schriftlich oder zur Niederschrift der
Geschäftsstelle des Erbgesundheitsgerichts Beschwerde einlegen. Die Beschwerde
hat aufschiebende Wirkung. Über die Beschwerde entscheidet das
Erbgesundheitsobergericht. Gegen die Versäumung der Beschwerdefrist ist die
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in entsprechender Anwendung der
Vorschriften der Zivilprozeßordnung
zulässig.
§ 10
(1) Das Erbgesundheitsobergericht
wird einem Oberlandesgericht angegliedert und umfaßt dessen Bezirk. Es besteht
aus einem Richter des Provinzialgerichts, einem beamteten Arzt und einem weiteren
für das Deutsche Reich approbierten Arzt, der mit der Erbgesundheitslehre besonders
vertraut ist. Für jedes Mitglied ist ein Vertreter zu bestellen. § 6 Abs. 2
gilt entsprechend.
(2) Auf das Verfahren vor dem
Erbgesundheitsobergericht finden §§ 7,8 entsprechende Anwendung.
(3) Das Erbgesundheitsobergericht
entscheidet endgültig.
§ 11
(1) Der zur Unfruchtbarmachung
notwendige chirurgische Eingriff darf nur in einer Krankenanstalt von einem für
das Deutsche Reich approbierten Arzt ausgeführt werden. Dieser darf den
Eingriff erst vornehmen, wenn der die Unfruchtbarmachung anordnende Beschluß
end-gültig geworden ist. Die oberste Landesbehörde bestimmt die
Krankenanstalten und Ärzte, denen die Ausführung der Unfruchtbarmachung
überlassen werden darf. Der Eingriff darf nicht durch einen Arzt vorgenommen
werden, der den Antrag gestellt oder in dem Verfahren als Beisitzer mitgewirkt
hat.
(2) Der ausführende Arzt hat dem
beamteten Arzt einen schriftlichen Bericht über die Ausführung der
Unfruchtbarmachung unter Angabe des angewendeten Verfahrens einzureichen.
§ 12
(1) Hat das Gericht die
Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des
Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt
hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen
zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung
unmittelbaren Zwanges zulässig.
(2) Ergeben sich Umstände, die eine
nochmalige Prüfung des Sachverhalts erfordern, so hat das Erbgesundheitsgericht
das Verfahren wieder aufzunehmen und die Ausführung der Unfruchtbarmachung
vorläufig zu untersagen. War der Antrag abgelehnt worden, so ist die
Wiederaufnahme nur zulässig, wenn neue Tatsachen eingetreten sind, welche die Unfruchtbarmachung
rechtfertigen.
§ 13
(1) Die Kosten des gerichtlichen
Verfahrens trägt die Staatskasse.
(2) Die Kosten der ärztlichen
Eingriffe tragen bei den der Krankenkasseninnung angehörenden Personen die
Krankenkasse, bei anderen Personen im Falle der Hilfsbedürftigkeit der
Fürsorgeverband. In allen anderen Fällen trägt die Kosten bis zur Höhe der
Mindestsätze der ärztlichen Gebührenordnung und der durchschnittlichen
Pflegesätze in den öffentlichen Krankenanstalten die Staatskasse, darüber
hinaus der Unfruchtbarzumachende.
§ 14
Eine
Unfruchtbarmachung, die nicht nach den Vorschriften dieses Gesetzes erfolgt,
sowie eine Entfernung der Keimdrüsen sind nur dann zulässig, wenn ein Arzt sie
nach den Regeln der ärztlichen Zunft zur Abwendung einer ernsten Gefahr für das
Leben oder die Gesundheit desjenigen, an dem er sie vornimmt, und mit dessen
Einwilligung vollzieht.
§ 15
(1) Die an dem Verfahren oder an der
Ausführung des chirurgischen Eingriffs beteiligten Personen sind zur
Berichterstattung verpflichtet.
(2) Wer der Schweigepflicht unbefugt
zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahre oder mit Geldstrafe
bestraft. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. Den Antrag kann auch der
Vorsitzende stellen.
§ 16
(1) Der Vollzug dieses Gesetzes
liegt den Landesregierungen ob.
(2) Die obersten Landesbehörden
bestimmen, vorbehaltlich der Vorschriften des § 6 Abs. 1 Satz 1 und des § 10
Abs. 1 Satz 1, Sitz und Bezirk der entscheidenden Gerichte. Sie ernennen die
Mitglieder und deren Vertreter.
§ 17
Der
Reichsminister des Innern erläßt im Einvernehmen mit dem Reichsminister der
Justiz die zur Durchführung dieses Gesetzes erforderlichen Rechts- und
Verwaltungsvorschriften.
§ 18
Dieses
Gesetz tritt am 1. Januar 1934 in Kraft.
Berlin,
den 14. Juli 1933.
A d o l f H i t l e r
Der Reichsminister des
Innern
F r i ck
Der Reichsminister der
Justiz
Dr. G ä r t n e r